Kunstpreis 2010

01. Jänner 2010 bis 31. Dezember 2010

Ausstellung:
Christian Egger, Renate Egger, Herbert Hinteregger, Annja Krautgasser, Roland Maurmair, Sandra Li Lian Obwegeser, Bernd Oppl, Ben Pointeker, Thomas Riess, Heidrun Sandbichler, Michael Schrattenthaler, Michael Strasser, Johanna Tinzl, Hannes Zebedin

  • Untitled, 2009 Hannes Zebedin HD-Video, 9:24 min. Farbe ohne Ton

Hannes Zebedin

753 Wörter – oder Hommage an Kannelos

Kaum ein anderes Gemälde versinnbildlicht in der italienischen Kultur stärker die Idee vom  Progress und Widerstand als die monumentale Malerei «Il Quarto Stato» (dt. «Der Vierte Stand») von Giuseppe Pellizza da Volpedo. Der piemontesische Maler brauchte Jahre intensiver Recherchen und Vorbereitungsstudien, bis er 1901 sein Meisterwerk vollenden konnte. Dieses gilt seitdem als Ikone der Arbeiterklasse. Auf dem Bild – das durch sein in der Horizontalen gestrecktes Format eine quasi filmisch-physische Präsenz besitzt – sind eine Masse von Arbeitern der Unterklasse zu sehen, die von zwei Männern und einer Frau mit einem Kind auf dem Arm in Richtung des Bildbetrachters geführt werden. Auf diese Anführergruppe strahlt das Licht und trotz der vielen Diskussionen, die in der Menge im Gange sind, drängt diese Menge dezidiert und zuversichtlich einer, man ahnt, besseren Zukunft für die ganze Menschheit entgegen.

Mit dem heutigen Blick scheint dieses Bild mit seiner einfachen, allegorischen Botschaft fast naiv zu sein. Aber dieses war natürlich das Produkt einer Zeit, in der politische Inhalte durch klare ideologische Positionen vermittelt werden mussten.  Und trotzdem hat «Il Quarto Stato» bis heute nichts von seiner Kraft und Dringlichkeit eingebüßt. Vielleicht, weil es eine der Ursprungsformen des politischen Zusammenseins und der demokratischen Rechte zeigt, eine Form, die auch heutzutage relevant und höchst aktuell ist: die Demonstration.

Hannes Zebedin hat sich dem Thema der Demonstration in einer überraschenden Videoarbeit gewidmet, die sich nicht nur mit einer relevanten politischen Tätigkeit befasst, sondern auch ein berührendes und unerwartetes Tierporträt darstellt. Im Gegensatz zum rhetorisch-didaktischen Titel von Pellizzas Gemälde trägt Zebedins neunminütiges Werk keinen. Diese „Nebenbemerkung“ hat in der Tat Gewicht, weil diese Wahl als exemplarisch gelesen werden kann: als Symbol für die Entwicklung der Kunst innerhalb eines Jahrhunderts, die heutzutage keine allegorischen Darstellungen oder didaktischen Ansätze mehr braucht, um ihre Dringlichkeit zu behaupten. Diese Wahl ist nicht nur eine formale Entscheidung und kann als folgendes Statement interpretiert werden: Heutzutage akzeptiert eine politische progressive Weltanschauung die Komplexität als Tatsache und diese lässt sich kaum in Worte fassen.

Wie bereits erwähnt, ist diese Videoarbeit in ihrem Sujet überraschend, wahrscheinlich genau deswegen so effizient und Effizienz ist eine seltene Eigenschaft für ein Kunstwerk. Der Protagonist ist in einer politischen Demonstration nur ein Nebendarsteller. Es handelt sich um einen Hund, und zwar um kein besonderes Prachtexemplar, sondern einen Mischling, der ein mit Nieten geschmücktes Halsband trägt. Schwarze, unscharfe Punkte auf dem weißen Fell lassen erahnen, dass sich in seinem Stammbaum wohl irgendwo ein eleganter Dalmatiner finden lässt. Zebedins Videokamera konzertiert sich obsessiv auf diesen Hund und folgt seinen Bewegungen in der Menge. Aus kleinen Details, die sich fast zufällig im Bild befinden, können wir  den Kontext rekonstruieren. Wie im Gemälde Pellizza da Volpedos befinden wir uns in Italien. Poster und eine rote Fahne mit Hammer und Sichel situieren die politische Ausrichtung, links. Aber dieser Kontext ist so unwichtig, dass der Autor sogar auf die Geräusche verzichtet. Es ist eine stumme Demonstration: Es werden keine Slogans in ein Megaphon geschrien und die Menge bewegt sich in einem gebrochenen Rhythmus.

Die Konzentration fällt also ausschließlich – fast gezwungenermaßen – auf die Bewegungen dieses Hundes. Er wirkt friedlich, zufrieden und neugierig. Er riecht überall ein bisschen, pinkelt unbekümmert an eine Laterne am Straßenrand und lässt sich genüsslich von den Leuten am Kopf streicheln. Seine Natürlichkeit generiert Sympathie. Er wirft aber auch Fragen auf. Man denkt sich, dass sein Herrchen nicht weit sein kann, da er ja immer in der unmittelbare Nähe desselben Wagens bleibt. Inwieweit ist er also frei bzw. inwieweit ist er sich bewusst darüber, wo er sich befindet und an was er mitmacht? Ist er in letzter Analyse nur ein Mitläufer?

Hannes Zebedin schafft es, ausgehend vom Porträt des Nebendarstellers einer Demonstration, ein gelungenes Hinterfragen der Systematik dieses politischen Ereignisses zu generieren. Dies gilt auch für andere seiner Arbeiten, die sich zum Beispiel dem Thema des Denkmals widmen. Mit dieser Videoarbeit schafft er eine wichtige Hommage an eines der wichtigsten Werkzeuge der Demokratie: die Demonstration. Vielleicht ist es eine der wichtigsten Aufgaben der aktuellen Kunst, uns die Verantwortung, die wir gegenüber der Demokratie und ihren Ausdruckmöglichkeiten haben, in Erinnerung zu rufen. Es ist ja allgemein bekannt, dass die europäischen Länder momentan ihr Arsenal an Wasserwerfern und andere paramilitärischen „Gadgets“ für die Straßenkämpfe (gegen ihre eigenen Leute) aufrüsten. Sie wissen schon, dass die Menschen für etwas kämpfen werden müssen. Dies wird vielleicht auch den Hunden langsam bewusst, wie die Geschichte von Kanellos zeigt. So heißt der griechische Straßenhund, der seit mehreren Jahren auf den Medienbildenr der Athener Demonstrationen auftaucht. Er ist immer dabei und immer an vorderster Front.

Giovanni Carmine, St. Gallen, Mai 2010