Kunstpreis 2006

01. Jänner 2006 bis 31. Dezember 2006

Ausstellung:
Friedrich Biedermann, Gerhard Diem, Thomas Feuerstein, Nicole Jausz, Annja Krautgasser, Barbara Larcher, Bernhard Mayr, Gregor Neuerer, Stephan Pirker, Raimund Pleschberger, Lukas Schaller, Michaela Schwarz-Weismann, Renée Stieger, Michael Strasser, Patricia Tschen

  • Thomas Hobbes, 2004 Lambda-Print, 130 x 130 c

Thomas Feuerstein

Medusa und Leviathan

„Thomas Hobbes. Soziale Emergenz II“ (2003) lautet der Titel eines der beiden Werke, für welche Thomas Feuerstein den diesjährigen RLB-Hauptpreis erhalten hat. Auf der Bildfläche des 130 x 130 cm großen C-Prints erscheint das schematisch durch schwarze Punkte auf weißer Fläche gebildete Gesicht des englischen Philosophen Thomas Hobbes, dessen 1651 im „Leviathan“ veröffentlichte Lehre vom Staat sich für die gesamte Neuzeit als von visionärer Hellsicht erwiesen hat.

Bei genauerem Hinschauen lassen sich die schwarzen Punkte als Fliegen, genauer: Fruchtfliegen erkennen, die der Künstler digital zu einem Gesicht zusammengesetzt hat. Die winzige Drosophila, die in der wärmeren Jahreszeit sich überall und in kürzester Zeit heftig zu reproduzieren im Stande ist, erscheint hier als Individuum und zugleich als Glied einer ins Unendliche verlängerbaren Sozietät. Die Drosophila ist das Tier, das auf Grund seiner relativen Einfachheit mehr als jedes andere bei der Genforschung zum Einsatz gelangt. In Feuersteins „Thomas Hobbes“ zeigt sich zusätzlich zum sozialen Ansatz eine Öffnung in Richtung der Naturwissenschaften. Gleichzeitig assoziiert man mit der nahezu gewichtlosen Drosophila, die ja auf Grund ihrer Mobilität in Wirklichkeit an jedem Ort nur eine sehr kurze Verweildauer hat, so etwas wie eine ästhetische Leichtigkeit, aber auch Prekarietät, da die von den Tieren gebildeten Konstellationen jeweils nur von vorübergehendem Bestand sein können.

Indem Feuerstein sein Bild unter das Zeichen des englischen Philosophen stellt, der den Menschen als Wolf unter Wölfen gesehen hat, macht er klar, in welchem Kontext es zu lesen ist. Es ist die unsere heutige Zeit bestimmende Spannung zwischen Individuum und gesellschaftlicher Ordnung, für die Feuerstein immer wieder nach Bildern sucht. Ein anderes Bild für den Leviathan, als welchen Hobbes den Staat bezeichnete, ist für Feuerstein die Qualle oder Meduse, die sich dem Naturwissenschaftler im Gegensatz zu ihrer einheitlichen Erscheinung als komplexes Kollektiv darstellt und für dessen Umsetzung der Künstler u. a. das Bild des Kristalllusters gefunden hat.

Zusammen mit dem preisgekrönten Foto hat Feuerstein eine Videoarbeit eingereicht, auf der in Bewegung befindliche Fliegen das Gesicht von Francis Galton, einem Verwandten von Darwin und Begründer der Eugenik, entstehen und vergehen lassen. Es handelt sich hier nicht um real in Bewegung befindliche Fliegen, sondern um digital und nach einem bestimmten Programm bewegte Bilder.

Die Eugenik, für welche der Namen Galtons steht, positioniert sich in ihrer Fortsetzung von Darwins Selektionslehre genau an der Schnittstelle zwischen Naturwissenschaft und Soziologie: Die Anwendung der Eugenik würde in der Tat einschneidende soziale Folgen zeitigen. Das Video gehört in dieselbe Werkgruppe wie die Fotoarbeit, nur dass es sich beweglicher Bildern, bedient. Die Titel der anderen Fotoarbeiten der Serie „Soziale Emergenz“ – „Adam Smith“, „Charles Darwin“, „Karl Marx“, „Niklas Luhmann“, „Jürgen Habermas“, „Antonio Negri“ – lassen die sozial-philosophische Stoßrichtung erkennen, die der Künstler mit der Serie verfolgt.

Die beiden prämierten Werke können in mehrfacher Hinsicht als repräsentativ für das vielfältige Œuvre Feuersteins angesehen werden. Zunächst in technischer Hinsicht: Feuerstein ist ein Medienkünstler, d. h. er bedient sich systematisch neuer Medien von der Fotografie über die Installation bis zum Video und zur reinen Textarbeit. Inhaltlich gilt, dass sich der Künstler in seinen Werken immer auf mehreren Ebenen gleichzeitig bewegt, wobei er unablässig Verknüpfungen zwischen ihnen herstellt. Als Künstler, der keine Nachweise zu erbringen, sondern Visionen zu entwickeln oder für unsere Zeit relevante Möglichkeiten zu erproben hat, arbeitet er mit den von verschiedenen Wissensbereichen zur Verfügung gestellten Informationen: sie werden vernetzt in einem letztlich aus den unterschiedlichsten Materialien zu lesenden Text bestehend.

Eigene Schriften und Texte anderer Autoren, die vom Künstler in Sammelbänden zusammengefasst werden, sind integrativer Bestandteil des Œuvres. Wenn Feuerstein hier den Hauptpreis zugesprochen bekommen hat, so zum einen aus Wertschätzung für die eingereichten Arbeiten, aber gleichzeitig auch als Anerkennung für das von ihm entwickelte hoch komplexe, wissenschaftlich-ästhetische System.

Andreas Hapkemeyer, Direktor des Museions – Museum für moderne und zeitgenössische Kunst, Bozen