Kunstpreis 2010

01. Jänner 2010 bis 31. Dezember 2010

Ausstellung:
Christian Egger, Renate Egger, Herbert Hinteregger, Annja Krautgasser, Roland Maurmair, Sandra Li Lian Obwegeser, Bernd Oppl, Ben Pointeker, Thomas Riess, Heidrun Sandbichler, Michael Schrattenthaler, Michael Strasser, Johanna Tinzl, Hannes Zebedin

  • Rauminstallation, 2009 Michael Schrattenthaler Galerie Klüser 2, München
  • wir sehn uns!, 2009 Michael Schrattenthaler Modell, Holz, Farbe, 58 x 24 x 32 cm

Michael Schrattenthaler

In Michael Schrattenthalers Werk stehen Räume im Mittelpunkt, jedoch nicht deren Füllen und Ummantelungen, sondern Räume als Raster und Strukturgebilde. In Gitterkonstruktionen baut der in München lebende Künstler tatsächliche Innenräume im Maßstab 1:1 nach. Stäbe, Latten und Rohre geben die Umfassungen von Decken, Böden und Wänden an, manches Inventar, wie Bänke, Möbel und
Waschbecken, kehrt in reduziertem Material wieder. Ursprüngliche Maßeinheiten werden wörtlich genommen, um räumliche Richtlinien zu geben. In der minimalistischen Kunst der USA nannte man Zellengebilde ähnlicher Art „grids“, doch bei Schrattenthaler sind die Kubaturen nicht Formstudien um ihrer selbst oder stereometrischer Gesetze willen. Seine Gitter entstammen anderen Motivationen. Es sind Übungen im irritierenden Modellbau, vor allem aber Fertigungen zur Motivation von subtiler Erinnerungskultur. Was nachgebildet wird, sind private Orte der Vergangenheit: die Werkstatt des Vaters im Untergeschoß des Hauses am Achensee, die Küche seiner Eltern, sein eigenes Jugendzimmer, oder seine Studentenwohnung in München mit dem Titel „Speicher“. Die Bauweise ist in jeder Rekonstruktion abweichend. Die Studentenwohnung wird mit Dachlatten aufgerichtet. Es entsteht ein lichtdurchfluteter Käfig aus Fichtenholz, der im Freien aufgestellt wird. Der Arbeitsplatz seiner Mutter kehrt als Gestänge von Heizungsrohren wieder, die den Luftraum durchmessen wie in einer vereinfachten Ingenieurszeichnung; – schließlich die Werkstatt des Vaters, ein Ort, an dem Schrattenthaler viele seiner handwerklichen Fertigkeiten erstmals erprobt; an sie erinnert die Übertragung des Holzbodens. Den einfachen Bretterboden zersägt Schrattenthaler und fertigt daraus ein Fischgrätmusterparkett, wie es in bürgerlich-wohlhabenden Wohnungen üblich ist. Die Farbspritzer, Ritzer, Fußspuren werden belassen, die Spur des Werktätigen und Nebenerwerbsbauers, nicht zuletzt die Marken der Erinnerung bleiben.

Mit der Erinnerung verhält es sich ähnlich wie mit dem Raum: sie erschließt sich allein in einem Befinden. Wir begeben uns in das Erinnerte, so wie wir uns an Orte bewegen, die sie in uns aufrufen, zugleich richten wir uns in ihnen ein, als wären biografische Rückblicke Orte des Wohnens. Am Wohnen wird uns das Sein gründlich, meinte Martin Heidegger, der sich bekanntlich nur selten bewegen ließ, seinen bäuerlichen Rückzugsort im Schwarzwald zu verlassen. Doch weniger das Sein wird uns in Schrattenthalers Bauten gegenwärtig als das Einfinden des Daseins. Das deutsche Wort „Einrichten“ trägt viele Züge dieses Einfindens, denn wir gestalten einen Raum, ebenso wie wir uns ihn verfügbar und nutzbar machen, schließlich, wie wir ihn nach den Richtungen orientieren. Schrattenthaler übersetzt dieses Einfinden, das keineswegs abstrakt, sondern vielmehr empfindsam und sensibel ist, in eine Erinnerungstätigkeit, in der sich gestautes Erlebtes in begehbare Raumzeichnungen verwandelt. Gewesenes erscheint als Aktuelles, jedoch aufgerichtet und wiederhergestellt durch das Konstrukt. Niemals ist diese Wiederfindung nostalgisch oder sentimental. Das Einfinden ist schemenhaft gebaut, grob gezimmert, sogar zum Teil spielerisch gestaltet wie in dem Heizkreis des Bürotisches. Wer den Computer und die Arbeitsmaterialien berührt, der greift auf heiße Kupferrohre, die erst erkalten, wenn Schrattenthaler den Kreislauf, der nicht zuletzt auch ein Durchgang durch Vergangenes ist, wieder abschaltet.

Für den Preis der Raiffeisen-Landesbank Tirol reicht Schrattenthaler ein Modell ein. Das Modell zeigt eine bekannte Galerie in Münchens Maxvorstadt. Schrattenthaler greift in die ortsspezifischen Gegebenheiten ein, nutzt die beiden Jahrhundertwende-Fenster, um an sie einen imaginären Raum anzuschließen. Dieser Raum mit dem Titel „wir sehn uns“ ist ein schleusenartiger Korridor, der nur zu den Fenstern Öffnungen besitzt. Der Blick von außen durch die Schaufenster wird zum Sog in einen gekurvten Innenraum, vielleicht sogar einen Körperschlund, der, gerade weil er weiß und leer wie ein konventioneller Galerieraum ist, sich wie die Leerstelle einer Selbstbefragung ausnimmt. Wir sind geneigt, die Tiefe dieses Bogenraumes zu erkunden, und werden auf der anderen Seite am Ausgang doch nichts anderes finden als nur das benachbarte, aber identische Portal. Was Schrattenthaler in diesem Werk anstrebt, ist das Einfinden ohne die Befriedigung des Gefundenen. Hier kann nicht einmal mehr erinnert werden. Weder ein Elternhaus noch ein Jugendzimmer stellt sich her und gewinnt durch den Nachbau neue Lebendigkeit. Allein eine unermüdliche Sinnsuche findet sich selbst, die allerdings fast vergeblich und zirkulär auf nichts anderes trifft als auf ihr eigenes Motiv und das Ungenügen, welches sie ursprünglich in Bewegung versetzt hat.

Thomas D. Trummer, München, Mai 2010